Gute liberale Politik heißt größtmögliche Freiheit für jeden

19.12.2023

Nach 37 Jahren als Abgeordneter wird Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn im Januar 2024 mit dem Ablauf der 20. Legislaturperiode den Hessischen Landtag verlassen. In knapp vier Jahrzehnten hat Hahn viele Aufgaben übernommen, war nicht nur Abgeordneter, sondern auch Partei- und Fraktionschef sowie Minister. Im Interview mit frei.hessen blickt Hahn auf eine ereignis- und themenreiche Zeit zurück – ein Gespräch über professionelle Politik, stolzmachende Erfolge und Normalbürgerin Oma Lena aus Leihgestern.


Herr Dr. Hahn, Sie werden zum Ende der Legislaturperiode nach fast vier Jahrzehnten aus dem Hessischen Landtag ausscheiden. Mit welchem Gefühl werden Sie im Januar gehen?

Dr. h.c. Hahn: Mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Mit einem lachenden Auge, weil ich nicht mehr durch die vielen Termine und Aufgaben fremdbestimmt sein werde und mehr Zeit für mich und meine Familie sowie meine Gesundheit haben werde. Aber auch mit einem weinenden Auge, weil ein sehr langer, nie so geplanter Lebensabschnitt zu Ende geht.

Wie viele Jahre hatten Sie denn geplant, im Landtag zu bleiben?

Hahn: Ich dachte an zwei, höchstens drei Legislaturperioden. Dann aber wurde ich zunächst Parlamentarischer Geschäftsführer und dann Fraktionsvorsitzender, denn es war klar, dass sich Ruth Wagner als Landesvorsitzende nicht um alle Aufgaben kümmern konnte. Sie war stark im Wissenschafts- und Kulturbereich aktiv und hat zu mir gesagt: „Jörg-Uwe, mach Du mal!“ Damit hat sie mir das politische Tagesgeschäft überlassen.

Erinnern Sie sich an Ihre erste Rede im Landtag?

Hahn: Ja! Das war eine verkorkste Rede über Antisemitismus in Gedern, also in meiner Heimat. Aus diesem Grund sollte ich dazu reden, war aber thematisch noch nicht so fit. Heute würde ich vollkommen anders zu diesem Thema sprechen.

Gibt es auch eine Lieblingsrede aus all den Jahren?

Hahn: Nein, eine Lieblingsrede gab es nicht. Aber ich kann mich an die stressigsten Reden erinnern – im Jahr 2000 anlässlich der Schwarzgeldaffäre der CDU. Damals stellte sich für uns die Frage, ob wir die Koalition nach gerade mal einem Jahr verlassen oder nicht.

Sie haben die Schwarzgeldaffäre der CDU angesprochen. Damals haben Sie an der schwarz-gelben Koalition festgehalten. Würden Sie sich noch einmal so entscheiden, die Zusammenarbeit fortzusetzen?

Hahn: Ja, auf alle Fälle. Es ging weniger darum, ob die Koalition oder Ministerpräsident Roland Koch einen Fehler gemacht hat. Es ging um das Parteiensystem und die Politik nicht nur in Hessen, sondern im Bund. Rot-Grün hatte in Berlin sehr schlecht begonnen. Deshalb konnte die CDU in Hessen die sogenannte Doppelpass-Kampagne fahren. Dann sahen SPD und Grüne die Möglichkeit, den „Betriebsunfall“ in Hessen wieder auszugleichen.

Sie haben unlängst in einem Interview Bezug genommen auf die Bonner Republik und betont, dass es diese eben nicht mehr gibt. Bedauern Sie die Entwicklung des Parteiensystems?

Hahn: Für uns als FDP war es damals einfacher gewesen. Wir waren jahrzehntelang der Königsmacher. Das hat man auch gemerkt, als wir zunächst mit Bundeskanzler Willy Brandt und dann mit Helmut Schmidt in einer sozialliberalen Koalition waren. Dann kam 1982 das Lambsdorff-Papier, und wir haben den Partner und damit die Koalition gewechselt.

Lassen Sie uns auf den Hessischen Landtag schauen: Wie hat sich denn die Parlamentsarbeit über die Jahrzehnte verändert?

Hahn: Sie ist viel strategischer, professioneller und wissenschaftlicher geworden. Das Einzige, was dem Hessischen Landtag noch fehlt, ist ein wissenschaftlicher Dienst.

Inwiefern strategischer?

Hahn: Strategischer im inhaltlichen Bereich. Die Abgeordneten können heute, wenn sie es wollen, um Längen besser informiert sein als früher.

Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn, Jahrgang 1956, gehört seit 50 Jahren der FDP an und hat die Liberalen in Hessen in verschiedenen Funktionen mitgeprägt. Seit April 1987 ist Hahn Mitglied des Hessischen Landtags, dessen Vizepräsident er in der aktuellen 20. Wahlperiode ist. Der Jurist war von 1999 bis 2009 Fraktionsvorsitzender der FDP im Hessischen Landtag und zwischen 2005 und 2014 Landesvorsitzender der FDP Hessen. In der schwarz-gelben Koalition von 2009 bis 2014 war Hahn Justizminister und Hessens erster Integrationsminister sowie Minister für Europaangelegenheiten. Gleichzeitig war er stellvertretender Ministerpräsident. Hahn, der die Ehrendoktorwürde der Uludag-Universität im türkischen Bursa und der EBS Universität für Wirtschaft und Recht trägt und mit dem Bundesverdienstkreuz sowie mit dem Hessischen Verdienstorden ausgezeichnet wurde, ist darüber hinaus stark kommunalpolitisch aktiv. 

Eine Ihrer Herzensangelegenheiten im Hessischen Landtag ist die Verkleinerung des Parlaments. Warum ist das so wichtig?

Hahn: Der Platz ist nicht da, und die Zahl der Aufgaben ist nicht so groß. Nicht umsonst haben die Mütter und Väter, die Hessen aufgebaut haben, von 110 Abgeordneten gesprochen. Das reicht. Je mehr Abgeordnete dem Landtag angehören, umso mehr Arbeit wird auch gemacht, die eigentlich gar nicht gemacht werden müsste. Jeder Abgeordnete will sich bestätigen, dass er etwas für seinen Wahlkreis, seine Partei und sein Themengebiet macht. Das sehen wir an der Zahl der Initiativen wie zum Beispiel Kleinen Anfragen – und wofür? Für eine Pressemitteilung für die Heimatzeitung. Außerdem ist es eine organisatorische Frage, dass dieser Gebäudekomplex aus allen Nähten platzt. Das beginnt im Plenarsaal, in dem es unverschämt eng ist, obwohl er neu ist.

Der Steuerzahlerbund mahnt auch regelmäßig die Größe des Landtags an. Glauben Sie, dass ein personell kleinerer Landtag auch zu mehr Akzeptanz bei den Bürgerinnen und Bürgern führt?

Hahn: Die Hoffnung habe ich mir schon lange abgeschminkt. Die Bürger interessieren sich für Teile ihrer Kommune und für die Bundespolitik. Alles, was dazwischen ist, interessiert die von mir so geschätzte Normalbürgerin Oma Lena aus Leihgestern nicht. Deshalb ist es in dieser Hinsicht vollkommen wurscht, wie groß oder klein der Landtag ist.

Lassen Sie uns auf Ihre Ministertätigkeit schauen: Sie waren Hessens erster Integrationsminister. Wie blicken Sie heute auf das Thema Integration?

Hahn: Das war eine meiner schwierigsten Aufgaben, die ich in der Landespolitik – auf eigenen Wunsch – erfüllen musste. Damals war das Thema bei den meisten Menschen noch nicht in den Köpfen oder negativ besetzt. Bis auf die christlichen Kirchen und Teile der jüdischen Gemeinde war bei Verbänden kein großes Interesse da. Als wir das gemerkt haben, haben wir gesagt: Wir müssen direkt an die Menschen ran, zum Beispiel über Lotsensysteme. Leider haben meine beiden Nachfolger die Grundlage, die wir geschaffen haben, nicht genutzt.

Wie würden Sie heute Integration gestalten?

Hahn: Das Wichtigste ist derzeit, noch intensiver die urdeutsche Bevölkerung mitzunehmen. Integration hat ja immer zwei Seiten – die Seite, die integriert werden möchte, und die, die integrieren soll.

Sie waren auch Justizminister. Mitunter gibt es heute noch Kritik an den Sparmaßnahmen, die Sie getroffen haben …

Hahn: Die Leute, die Kritik üben, tun das aus parteipolitischen Gründen. Ich war kürzlich wieder in Nidda, wo wir seinerzeit das Amtsgericht geschlossen haben. Da kommen heute noch Menschen auf mich zu und sagen, dass das vollkommen richtig gewesen sei. Ein Gericht mit zwei, drei Richtern, von denen einer krank und eine schwanger ist, ist nicht arbeitsfähig. Wir haben natürlich mit der Schließung von Gerichten Kosten gespart, aber wir haben nicht eine einzige Personalstelle eingespart. Da werden heute falsche Dinge behauptet.

Wie betrachten Sie Ihre Arbeit als Minister heute rückblickend?

Hahn: Auch Jörg-Uwe Hahn ist ein Mensch und macht nicht alles perfekt. Aber wir haben in der Zeit begonnen, die Justiz intensiv auf IT umzustellen. Die heute vieldiskutierte E-Akte war bei uns bereits in Planung, wurde dann aber leider von meiner Nachfolgerin schleifen gelassen. Mit Bayern waren wir das erste Bundesland, das die elektronische Fußfessel eingesetzt hat. Wir waren da sehr weit vorne. Vielleicht war die ein oder andere Personalauswahl nicht gut, aber es muss viele kluge Entscheidungen gegeben haben: All diejenigen, die zu meiner Zeit Abteilungsleiter im Justizministerium waren, sind heute Minister, Gerichtspräsident oder Generalstaatsanwalt.

Sie waren Minister, und Sie waren sowohl Partei- als auch Fraktionsvorsitzender der hessischen FDP. In welcher Rolle konnten Sie am meisten gestalten?

Hahn: Ganz klar als Fraktionsvorsitzender. Sowohl in der Regierung als auch in der Opposition. Da hatte ich viel mehr Beinfreiheit.

Haben Sie Beispiele dafür, in welchen Bereichen Sie stark gestalten konnten?

Hahn: Mich haben schon immer die Innenpolitik und der Zustand der Polizei interessiert, und gerade in der Zeit als Fraktionsvorsitzender konnte ich da viel gestalten. Volker Bouffier als Ministerpräsident und ich als Fraktionsvorsitzender und innenpolitischer Sprecher haben die Polizei umstrukturiert und modernisiert.

Jetzt hat sich ein Kreis geschlossen, Sie sind wieder innenpolitischer Sprecher der Landtagsfraktion und auch ein großer Fürsprecher der hessischen Polizei. Sehen Sie bei aller Unterstützung Verbesserungsbedarf bei der Polizei?

Hahn: Ja! Zum einen ist derzeit die Stimmung bei der hessischen Polizei mit Recht schlecht, weil sie derzeit nicht nach den Regeln der hessischen Verfassung besoldet wird. Ich kann mir als Rechtsstaatler nicht vorstellen, dass eine Landesregierung nicht bezahlt, was sie bezahlen muss. Das ist genau so, wie wenn der Polizeibeamte eine Straftat nicht weiterverfolgt, weil er keine Lust hat. Dieses Gerechtigkeitsgefühl ist bei der Polizei noch viel ausgeprägter als bei anderen Beamten, die ebenfalls nicht verfassungsgemäß bezahlt werden. Zum anderen habe ich das Gefühl, dass in der Führung der hessischen Polizei eine Mentalität Einzug gehalten hat, die nach oben sehr sympathisch ist und nach unten die Mitarbeiter im Regen stehen lässt. Das schlimmste Beispiel ist, wie nach den schrecklichen Attentaten von Hanau mit der Polizei umgegangen wurde. Da hätten der Minister und der Polizeipräsident am nächsten Tag hingehen müssen und sagen: „Danke, habt Ihr gut gemacht, und die drei Punkte, die schlecht gelaufen sind, verbessern wir künftig.“

Wie sehen Sie die Skandale bei der Polizei, zum Beispiel die rechtsradikalen Chats?

Hahn: Das darf natürlich nicht sein. Das ein oder andere Mal war der Korpsgeist größer als die Verpflichtung, dem entgegenzutreten. Jetzt hat man kapiert, dass das nicht geht.

Sie vertreten auch immer sehr klare Positionen bei Themen wie Vorratsdatenspeicherung und Videoüberwachung. Sind das für Sie klassische liberale Brot-und-Butter-Themen?

Hahn: Ja. Wir machen als hessische FDP seit Beginn des Datenschutzgesetzes, das in einer SPD/FDP-Koalition beschlossen wurde, Datenschutz. Ich sage aber auch sehr dezidiert: Datenschutz ist nicht alles, muss aber abgewogen werden. Videoüberwachung ist sinnvoll im Frankfurter Bahnhofsviertel, aber nicht an einer Packstation.

Worauf sind Sie besonders stolz?

Hahn: Zwei Mal haben wir Liberale es geschafft, Landesbürgschaften zu verhindern. Einmal kurz bei Holzmann und das zweite Mal bei Opel. Ich bin mir sicher, wir haben dem Steuerzahler bestimmt hunderte von Millionen Euro erspart.

Was macht für Sie eine gute liberale Politik aus?

Hahn: Dass sie jedem einzelnen Menschen so weit wie möglich seine Freiheit zubilligt und dass es trotzdem einen gesellschaftlichen Konsens gibt. Dafür ist die Bildung das Wichtigste. Ich kann nur frei entscheiden, wenn ich etwas beurteilen kann. Wir brauchen eine ganz starke Bildung, damit die Einzelnen – dazu gehören außer Ihnen und mir zum Beispiel auch Unternehmen – frei entscheiden können.

Wie werden Sie künftig von außen auf die Landespolitik schauen?

Hahn: Das weiß ich noch nicht. Ich habe auch noch kein Gefühl dafür, wie intensiv ich mich künftig damit beschäftigen werde. Ich bewundere Freunde, die vollkommen den Stecker gezogen haben und ganz raus sind aus der Landespolitik.

Haben Sie schon eine Ahnung, wie Ihr neuer Alltag nach dem 18. Januar aussieht?

Hahn: Ich werde meine kommunalpolitischen Aufgaben fortführen und bin in einigen Aufsichtsräten sowie im Hochschulrat der EBS. Es gibt noch genug zu tun, aber bitte nicht mehr in dieser hohen Taktzahl. Ich habe dann also weniger Termine, möchte aber viel mehr Sport treiben: Der Bauch muss irgendwie weg.


Standhafter Liberaler mit starkem politischem Gespür
René Rock, Fraktionsvorsitzender der Freien Demokraten im Hessischen Landtag, würdigt seinen langjährigen Abgeordnetenkollegen Dr. h.c. Jörg-Uwe Hahn, der am Ende der laufenden Wahlperiode aus dem Landtag ausscheidet: „Jörg-Uwe Hahn ist ein Landespolitiker mit riesiger Erfahrung: Er war Justiz-, erster Integrations- sowie Europaminister, Partei- und Fraktionschef. Er hat die hessische FDP drei Mal in den Landtagswahlkampf geführt, unter anderem 2009, als sie mit 16,2 Prozent ein Rekordergebnis erzielte und 20 Sitze holte. Kurzum: In den Reihen der hessischen FDP gibt es derzeit niemanden, der so große Verdienste hat wie Jörg-Uwe Hahn. Von seinem übergroßen Engagement und seinem Erfahrungsschatz haben wir als Fraktion viele Jahre profitieren dürfen: Jörg-Uwe Hahn ist nicht nur ein standhafter Liberaler, der seine Positionen überzeugend zu vertreten weiß, er hat auch ein starkes politisches Gespür sowie ein großes politisches Geschick. Sein Wort hat Gewicht über Partei- und Fraktionskreise hinaus. Jörg-Uwe Hahn war und ist ein Aktivposten und hat für die Freien Demokraten Enormes geleistet, sowohl in den Gremien als auch gegenüber Verbänden sowie den Bürgerinnen und Bürgern. Er ist derjenige, der stets daran erinnert, was Oma Lena als normale Bürgerin von der Politik erwartet. Wir sind Jörg-Uwe Hahn höchst dankbar für das, was er über Jahrzehnte für uns und damit für die Hessinnen und Hessen geleistet hat. Er hat Maßstäbe gesetzt!“