Antisemitismus gemeinsam bekämpfen
Bildung ist das beste Mittel gegen Terror und Geschichtsverfälschung
Berufsschüler, die öffentlich den Holocaust beklatschen, TikTok-Influencerinnen, die Hamas-Propaganda in hessische Kinderzimmer tragen und Studierende, die israelfeindliche Parolen auf Uni-Campussen brüllen. Mit unvorstellbarer Härte spüren wir die Folgen des 7. Oktober auch hier in Hessen. Antisemitismus verbreitet sich auf unseren Straßen und Schulhöfen, in den Hochschulen und sozialen Medien. Die Freien Demokraten im Hessischen Landtag wollen den Kampf gegen Antisemitismus in der Schule beginnen.
Antisemitismus gefährdet Jüdinnen, Juden und jüdisches Leben in unserem Land. Und er gefährdet das friedliche Zusammenleben unserer vielfältigen Gesellschaft. Rund 1500 Meldungen, die einen antisemitischen Bezug hatten, gab es beim Portal Hessen gegen Hetze im Zeitraum vom 7. Oktober 2023 bis Anfang April 2024. Das sind rund 900 Meldungen und damit deutlich mehr als doppelt so viele wie im Vorjahreszeitraum. Über die Hälfte davon waren sogar strafrechtlich relevant.
„Wir dürfen nicht hinnehmen, dass hierzulande Menschen beleidigt, angefeindet und angegriffen werden, weil sie Juden sind“, sagt Wiebke Knell bei ihrer Begrüßung zu einer Podiumsdiskussion, zu der die Fraktion der Freien Demokraten im April in den Hessischen Landtag geladen hat. Neben Uwe Becker, dem hessischen Antisemitismusbeauftragen, sitzen unter anderem Alon Meyer, Präsident des jüdischen Turn- und Sportverbands Makkabi Deutschland, sowie Dr. Deborah Schnabel, Leiterin der Bildungsstätte Anne Frank, auf der Bühne und der pensionierte Geschichtslehrer Dr. Wolfgang Geiger. Sie wollen erörtern, was sich verändern muss, damit junge Menschen widerstandsfähig gegen antisemitisches Gedankengut werden.
Ben Salomo hat sich von unterwegs aus zugeschaltet. Er war der erste bekennende Jude in der deutschen Rap-Szene und kehrte ihr den Rücken, weil er die antisemitischen Verschwörungstheorien und Anfeindungen dort nicht mehr ertragen konnte. Er ist auf dem Rückweg von einer Schulveranstaltung. Seit mehreren Jahren ist der 47-Jährige auch für die Friedrich-Naumann-Stiftung an Schulen in ganz Deutschland unterwegs, um Jugendliche über antisemitische Codes und Symbole im Deutschrap aufzuklären und über seine persönlichen Erfahrungen als Jude zu berichten. „Antisemitismus-Prävention, Israelverständnis und Medienkompetenz sollten feste Säulen in der Bildung werden,“ fordert er.
Auf dem Podium im Landtag in Wiesbaden berichtet Dr. Wolfgang Geiger daraufhin eindrücklich aus dem Alltag der Lehrkräfte an Hessens Schulen. Der Leiter des Arbeitskreises Deutsch-jüdische Geschichte des Verbands der Geschichtslehrerinnen und -lehrer Deutschlands findet deutliche Worte. „Vielen Kolleginnen und Kollegen fällt es schwer, das Thema Israel und Nahostkonflikt im Unterricht anzusprechen.“ Zu oft seien Lehrkräfte mit der Behandlung des Themenkomplexes überfordert, würden Antisemitismus nicht erkennen, oder nicht wissen, wie sie auf antisemitische Aussagen reagieren sollen. Sie fühlten sich von der Institution Schule bzw. dem Kultusministerium alleine gelassen. Geiger fordert deshalb mehr Fortbildungsangebote. Auch Deborah Schnabel bestätigt dieses Problem. Insbesondere das aktualitätsbezogene Arbeiten habe man als Gesellschaft verschlafen. Themen wie der israelbezogene Antisemitismus, Verschwörungstheorien und Antisemitismus im Netz kämen im Schulunterricht nicht vor. Dabei spielen insbesondere die sozialen Medien, in denen Inhalte auch mittels künstlicher Intelligenz und Deep-Fakes geteilt werden, bei der Verbreitung antisemitischen Gedankenguts mittlerweile eine zentrale Rolle. In ihrer Studie „Die TikTok-Intifada – Der 7. Oktober & die Folgen im Netz“ beschreibt die Direktorin der Bildungsstätte Anne Frank das Phänomen. „TikTok verstärkt den Antisemitismus in Deutschland. Das spaltet unsere Gesellschaft und gefährdet unsere Demokratie“, sagt sie. Dies sei ein Trend, den unsere Gesellschaft verschlafen habe. Das sagt auch Alon Meyer: „Die Extremisten, auch unter den Muslimen, sind nur so laut, weil wir als die vernünftige Mitte bisher zu leise sind.“ Als Präsident von Makkabi Deutschland hat er nahezu täglich mit Antisemitismus zu tun. Die Spieler des Vereins tragen alle den Davidstern auf dem Trikot, auch wenn nicht alle jüdischen Glaubens sind. Nicht nur auf den Sportplätzen oder in den sozialen Medien fordert Meyer, dessen Vater Makkabi 1965 in Frankfurt gegründet hat, mehr Haltung. Der 50-Jährige sieht ein gesamtgesellschaftliches Problem: „Wir alle verlieren das Gesicht. Jeder einzelne von uns verliert den Mut, um im entscheidenden Moment aufzustehen“, sagt er. „Jetzt sind es die Juden. Morgen sind es die Blonden. Übermorgen sind es die Brillenträger. Es geht doch jetzt darum, dass unsere Gesellschaftsform hier mit Füßen getreten wird. Und die Frage ist, ob wir das alle erkennen.“
Der Antisemitismusbeauftragte der hessischen Landesregierung, Uwe Becker, spricht in diesem Zusammenhang das Thema Haltung an. „Und das beginnt bei der Frage Bildung. Es beginnt bei der Frage, was uns die Vermittlung von Werten, über die wir jeden Tag reden am Ende auch tatsächlich faktisch wert ist.“ Schließlich ist sich die Runde einig darin, dass der Schlüssel zur Bekämpfung des Antisemitismus in der Bildung liegt und dass das hessische Schulsystem diesbezüglich dringenden Nachholbedarf hat. Neben einer ausreichenden Finanzierung von Präventionsprogrammen bedarf es einer besseren Lehrkräfteausbildung und mehr Fortbildungsangeboten. „Wenn Lehrkräfte nicht sprechfähig sind und schweigen über den 7. Oktober und seine Folgen, dann färbt das ab“, argumentiert Deborah Schnabel abschließend. „Das setzt ein Signal für die jungen Menschen, dass nicht darüber gesprochen werden muss und auf antisemitische Äußerungen und Taten nicht direkt reagiert wird.“
Eine direkte Reaktion auf die Veranstaltung der Freien Demokraten gibt es schon in der nächsten Sitzungswoche des Hessischen Landtags im Mai. In einem gemeinsamen Antrag beschließen die Fraktionen von CDU, SPD, Grünen und Freien Demokraten, dass Lehrkräfte umfassende Fortbildungsmöglichkeiten im Bereich Antisemitismus- und Extremismusprävention erhalten sollen. „Bildung ist das beste Mittel gegen Terror und Geschichtsverfälschung“, bekräftigt Wiebke Knell in ihrer Rede. Schule müsse ein Gegenentwurf zu den Sozialen Medien sein. „Schule ist ein Raum, in dem kontrovers diskutiert werden kann, in dem Antisemitismus und Menschenfeindlichkeit nicht unwidersprochen stehen bleiben dürfen.“
HIER finden Sie eine Aufzeichnung der kompletten Veranstaltung.