Kein Blankoscheck für Bouffier
In der Corona-Krise trifft die hessische Landesregierung Entscheidungen oft eigenmächtig. Das Parlament wird außen vor gelassen. Die Oppositionsfraktionen im Hessischen Landtag haben sich zum Ziel gesetzt, das „Durchregieren“ von Schwarz-Grün zu beenden. Immerhin ist die Bekämpfung einer Pandemie keine Aufgabe, die im Alleingang bewältigt werden kann.
Es ist ein Szenario, wie es sich seit März 2020 mehrfach ereignet hat: Die von der Staatskanzlei angekündigte Pressekonferenz, in der der Ministerpräsident über die Beschlüsse der Bund-Länder-Konferenz informieren will, verschiebt sich – „abhängig von der Dauer der Beratungen“, heißt es immer wieder. Sind diese dann zu Ende, tritt Volker Bouffier vor die Öffentlichkeit und erklärt den hessischen Bürgerinnen und Bürgern ihren neuen Alltag: wo sie fortan eine Maske tragen müssen, wie viele Freunde sie treffen können, ob das im Restaurant möglich ist oder nicht, ob sie ihrem Beruf weiter nachgehen dürfen und ob Schulen und Kitas geöffnet bleiben oder die Kinder zu Hause betreut und möglicherweise sogar unterrichtet werden müssen. Die Entscheidungen, auf die sich die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder in ihren mehrstündigen Videokonferenzen einigen, sind meist einschneidend – so einschneidend, dass sie das Leben der Menschen nicht nur von einem auf den anderen Tag verändern, sondern dass damit auch massiv in ihre Grundrechte eingegriffen wird. „Während die Menschen in unserem Land die Entscheidungen der Politik weitestgehend unterstützen, bleibt die Politik den Menschen im Gegenzug noch immer vieles schuldig – von Erklärungen bis hin zu Entschädigungen“, sagt René Rock in der Rückschau auf das Jahr 2020. Der Fraktionsvorsitzende der Freien Demokraten im Hessischen Landtag sieht das Vorgehen der Regierung in der Corona-Krise zunehmend kritisch.
SCHATTENHAUSHALT STATT SCHULDENBREMSE
Es waren nur noch wenige Wochen bis zur parlamentarischen Sommerpause, als der hessische Finanzminister die Vorsitzenden der Landtagsfraktionen über seinen Plan informierte, ein kreditfinanziertes Sondervermögen in Höhe von 12 Milliarden Euro auflegen zu wollen. Aus diesem Topf wolle er die zusätzlichen finanziellen Belastungen, die sich durch die Corona-Krise ergeben würden, leisten, erklärte Michael Boddenberg an einem Donnerstag Ende Mai 2020 im Finanzministerium in Wiesbaden. René Rock konnte dieser Idee nichts abgewinnen. Wie er es drehte und wendete, er konnte einfach keinen Vorteil erkennen, den ein solches Sondervermögen gegenüber den vom Gesetz vorgesehenen Nachtragshaushalten haben sollte. Zudem beabsichtigte die Landesregierung offenbar auch, die in der Verfassung verankerte Schuldenbremse gleich für mehrere Jahre außer Kraft zu setzen. In einem späteren Telefonat teilte er seiner SPD-Kollegin Nancy Faeser seine Bedenken mit. Die beiden waren sich schnell einig, das Vorhaben der Landesregierung nicht unterstützen zu wollen, sondern coronabedingte Hilfen mit Nachtragshaushalten zu finanzieren.
Mit ihrer Kritik an den Plänen der Landesregierung waren die Oppositionsfraktionen nicht alleine. Auch der Landesrechnungshof äußerte sich in einer Stellungnahme zum sogenannten „Gute-Zukunft-Sicherungsgesetz“ kritisch und merkte an, dass durch die Bildung eines Sondervermögens die Budgethoheit des Parlaments verletzt werde. Doch allen Hinweisen zum Trotz hielt die schwarz-grüne Landesregierung an ihren Absichten fest. In mehreren Sondersitzungen des Landtags änderte sie mit ihrer Ein-Stimmen-Mehrheit zuerst das Gesetz zur Schuldenbremse und die darin vorgesehene erforderliche Zustimmung, um an einem sonnigen Samstag, es war der 4. Juli 2020, den mit Schulden finanzierten Schattenhaushalt zu verabschieden. Mit dem Sondervermögen habe Schwarz-Grün die Schuldenbremse für die Dauer von drei Jahren faktisch aufgehoben, konnte man Rocks Kritik am darauffolgenden Montag in den Zeitungen nachlesen. Insbesondere ärgerte sich der Fraktionsvorsitzende aber über den Katalog der zu finanzierenden Maßnahmen, den die Landesregierung im Nachgang bekannt gab. Demnach sollten aus dem Corona-Sondervermögen Gelder freigegeben werden, mit denen unter anderem die Dämmung von Forsthäusern oder Fahrrad-Garagen bezahlt werden sollten. Was bitte hatte das mit der Bewältigung der Corona-Krise zu tun, fragte sich Rock. Zusammen mit der SPD beauftragte seine Fraktion schließlich einen Gutachter, um die rechtlichen Möglichkeiten der Opposition gegen das von CDU und Grünen beschlossene Gesetz zu prüfen.
GUTACHTEN BESTÄTIGT VERFASSUNGSWIDRIGKEIT
Auf knapp 70 Seiten kommt Professor Christoph Gröpl zu dem Schluss, dass die Errichtung und die Ausgestaltung des schwarz-grünen Sondervermögens in der vorliegenden Form verfassungswidrig seien. Für die Landesregierung sei die Corona-Krise Anlass, Schulden aufzunehmen, die mit der Pandemie gar nichts zu tun hätten, bilanziert der Verfassungsrechtler aus Saarbrücken. „Indem das Sondervermögen über einen Zeitraum von dreieinhalb Jahren am hessischen Kernhaushalt vorbei Ausgaben leisten darf, wird das Plenum des Hessischen Landtags unzulässigerweise von der jährlichen Bewilligung und Kontrolle dieser Finanzmittel ausgeschlossen“, heißt es außerdem in dem Ende September 2020 vorgelegten Gutachten.
René Rock war erleichtert, darin auch lesen zu können, dass die Aufhebung der Zwei-Drittel-Mehrheit für Ausnahmen von der Schuldenbremse mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit hätte erfolgen müssen. „Die Landesregierung hat die Schuldenbremse in dem Jahr, in dem sie in Kraft treten sollte, de facto abgeschafft. Dabei ignoriert sie, dass Schulden die verbrauchten Chancen der jungen Generation sind und daher besonders gut begründet werden müssen“, sagte der Vater einer Tochter im Rahmen der Pressekonferenz, auf der das Gutachten vorgestellt wurde. Damit sah er seine Kritik am hessischen Sondervermögen in gleich mehreren Punkten bestätigt: Es werden Dinge finanziert, die nicht unmittelbar mit der Corona-Pandemie zusammenhängen. Und die Rechte des Parlaments werden massiv beschnitten.
RECHTE DES PARLAMENTS STÄRKEN
Nicht nur die finanziellen, insbesondere auch die gesundheitlichen und gesellschaftlichen Herausforderungen der Corona-Krise sollten nach Meinung der Freien Demokraten im Parlament beraten werden. Es ist mittlerweile Herbst geworden, und René Rock beobachtet schon seit Längerem mit Sorge, dass das Verständnis der Bevölkerung für einige Corona-Maßnahmen zunehmend schwindet. Vor dem zweiten Lockdown im November hatten ihn und seine Fraktion zahlreiche Schreiben aufgebrachter Bürgerinnen und Bürger erreicht, unter anderem zur Schließung der Musikschulen und Sportanlagen. Bereits im Sommer waren einige der jetzt erneut beschlossenen Maßnahmen, wie das Beherbergungsverbot, von Verwaltungsgerichten gekippt worden, weil diese „nicht nachvollziehbar begründet, zu unbestimmt oder unverhältnismäßig“ gewesen waren. „Nur wenn wir offen über die Maßnahmen diskutieren, argumentieren und abwägen, finden sie die erforderliche Akzeptanz. Darüber hinaus ist die Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen entscheidend, um die Akzeptanz in der Bevölkerung zu gewährleisten“, begründete Rock einen gemeinsamen Gesetzentwurf von FDP und SPD, der in der Sitzungswoche im November in erster Lesung im Hessischen Landtag beraten wurde. Die Oppositionsfraktionen wollen damit die Rechte des Parlaments in der Corona-Krise stärken. „Einen Blankoscheck, mit dem die Landesregierung unbegrenzte Vollmachten zu Grundrechtseingriffen und für Wahlgeschenke erteilt bekommt, wird es mit uns nicht geben“, argumentierte Rock. Nur einen Tag zuvor hatten Sozialdemokratin Faeser und er Klage gegen das im Sommer verabschiedete Sondervermögen der Landesregierung beim Staatsgerichtshof eingereicht. Die beiden Fraktionsvorsitzenden zeigten sich zuversichtlich, dass das höchste hessische Gericht ihrer Argumentation – zumindest in Teilen – folgen würde.